Evozierte Potenziale (EP) können Hinweise auf neuropathologische Veränderungen bei Multipler Sklerose (MS) liefern. Bisher gab es nur wenige Studien, die den Zusammenhang zwischen visuell evozierten Potenzialen (VEP) und der kognitiven Leistung bei MS über einen längeren Zeitraum untersuchten. Im Rahmen dieser Studie evaluierten die Autoren, inwieweit VEP die Entwicklung kognitiver Veränderungen bei MS vorhersagen können.

VEP spiegeln die elektrophysiologische Aktivität im visuellen System des Gehirns wider. Veränderungen in der Latenzzeit der gemessenen Potenziale sind mit Atrophien der Sehbahn, Demyelinisierung und Axonverlusten assoziiert. Durch die Verknüpfung des visuellen Systems mit anderen kortikalen Bereichen sind VEP auch bei höheren kognitiven Funktionen von Relevanz. Die Magnetresonanztomografie gilt als Goldstandard zur Untersuchung des Krankheitsverlaufs bei MS. EP können jedoch ergänzend einen prognostischen Wert zur Vorhersage der Entwicklung von MS liefern. Frühere Studien zeigten, dass verlängerte Latenzzeiten bei EP den Verlauf körperlicher Einschränkungen bei MS anzeigen können. Bisher verfolgten jedoch nur wenige Studien den Zusammenhang von VEP und kognitiven Funktionen im Verlauf von MS.

 

Methoden

 

In dieser retrospektiven Studie untersuchten die Autoren Daten von 67 Patienten mit MS. Mithilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG) wurden bei den Patienten VEP abgeleitet. Ein Schachbrettmuster diente hierbei als visueller Stimulus. Die Autoren bewerteten die maximale Latenzzeit des charakteristischen Potenzialpeaks bei 100ms (P100) im EEG. Zusätzlich untersuchten sie die interokulare Latenz (IOL). Hierfür verglichen sie die Latenzzeiten des P100-Peaks zwischen rechtem und linkem Auge. Zur Bewertung der kognitiven Fähigkeiten absolvierten die Patienten einen Test, der verschiedene Bereiche wie Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache, visuell-räumliche Verarbeitung, exekutive Funktionen, psychomotorische und motorische Funktionen abdeckte. Die Daten umfassten Messungen zu zwei Zeitpunkten. Die erste Messung diente als Basiswert (T1) und die zweite Messung zur Nachbeobachtung erfolgte nach 2 Jahren (T2). Statistisch relevante Änderungen beurteilten die Autoren mithilfe multipler linearer Regression.

 

Ergebnisse

 

Die Autoren fanden heraus, dass veränderte Latenzzeiten der VEP und der IOL mit kognitiven Veränderungen einhergingen. Sie fanden im Einzelnen:

  • Eine längere Latenzzeit der VEP und eine erhöhte IOL zu T1 war mit einer signifikant schlechteren Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit zu T2 assoziiert. Verkürzte Latenzen der VEP und zusätzlich geringere IOL zu T1 korrelierten hingegen nicht mit der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. Dies zeigt, dass die Interaktion zwischen Latenz der VEP und IOL unterschiedliche Effekte in verschiedenen Subgruppen von Patienten mit MS hat.
  • Zudem war eine längere Latenzzeit der VEP von T1 zu T2 signifikant mit schlechteren psychomotorischen Funktionen assoziiert. Ursächlich hierfür sehen die Autoren die zahlreichen neuronalen Verschaltungen zwischen visuellem und motorischem System.
  • Generell war die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten von T1 zu T2 nicht eindeutig. Besonders Patienten mit niedrigeren kognitiven Leistungen zu T1 tendierten zu verbesserten kognitiven Fähigkeiten zu T2. Patienten mit höheren kognitiven Leistungen zu Beginn zeigten hingegen geringere Veränderungen im zeitlichen Verlauf. Dies erklären sich die Autoren mit der fluktuierenden Krankheitsaktivität bei MS mit wechselnder Verschlechterung und Verbesserung der kognitiven Funktionen.

 

Limitierend für ihre Studie nannten die Autoren die Stichprobengröße. Zudem wäre ein längerer Untersuchungszeitraum sowie der Einschluss von Patienten mit deutlicheren kognitiven Beeinträchtigungen hilfreich, um die Beziehungen zwischen VEP und dem Krankheitsverlauf präziser bestimmen zu können.

 

Fazit:

Diese Studie deutet darauf hin, dass die Messung der Latenz der VEP kognitive Verschlechterung bei MS anzeigen kann. Im Speziellen dienen VEP als prognostische Marker für die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. Jedoch sind weitere Untersuchungen erforderlich, um den Zusammenhang zwischen VEP und den neuropathologischen Mechanismen im Krankheitsverlauf bei MS weiter zu entschlüsseln, so die Autoren.

Quelle:

Visuell evozierte Potenziale und kognitive Leistung bei Multipler Sklerose. Klinische Neurophysiologie 2023; 54(02): 69 – 69. doi:10.1055/a-1979-7791

Publikationsdatum: 31. Mai 2023 (online)

Autor Studienreferat: Dr. Karin Odoj, Tübingen